Leseproben – Unheilbringer

Interludium

Er hätte ihr Kichern überall erkannt und noch aus weit größerer Entfernung gehört. Er wusste daher genau, wo sie sich versteckte. Und sein Herz erwärmte sich bei der Vorstellung, wie sehr sie sich darüber freute, sich erfolgreich vor ihm versteckt zu haben. Sein Herz zu erwärmen, das war kein Leichtes, wie ein jeder bestätigen konnte, der Hal Giri auch nur flüchtig kannte. Ein unbeschwertes Mädchen, selbst in diesen Zeiten. Ebenso unschuldig wie schützenswert.

Er bewegte sich vorsichtig durchs hohe Gras und ließ die bis zu seinen Hüften aufragenden Halme seine Fingerspitzen kitzeln. Obwohl er das Kichern, von dem er wusste, dass sie es mit aller Macht zu unterdrücken versuchte, weiterhin eindeutig hören konnte, gab er sich unwissend. Schaute hierhin, dorthin, nur nicht in die Richtung, aus der das Kichern kam. Sein Blick fiel auf die zahlreichen Sterne am Nachthimmel, über dem ein violetter Schimmer hing. Er musste lächeln. Die Sterne beruhigten ihn. Erdeten ihn. Das hatten sie immer getan. Er ignorierte bewusst den roten Fleck, der bisweilen deutlich zu flackern schien und der von Tag zu Tag größer und auffälliger wurde, dessen Intensität zumeist aber durch Wolken und Äther vermindert und seine Erscheinung damit verwaschen blieb. Seine Sorgen bezüglich des Shenkza mussten für den Moment warten.

„Mmmh“, machte er jetzt und tippte sich an die vollen Lippen. Fuhr sich über die stoppelige Oberlippe, die Wange, das Kinn. Schüttelte den Kopf. Und schritt bewusst nur wenige Meter an dem – zugegebenermaßen kaum vernehmlichen, sie bewies Disziplin, was ihn freute – Kichern vorbei.

„Wo mag sie nur stecken? Wo verbirgt sie sich vor den Augen Hal Giris – den Augen, die alles sehen?“, fragte er mit reichlich Pathos in der Stimme in die Nacht hinaus und schaute, die Augen mit der schwieligen Hand vor der nicht vorhandenen Sonne abschirmend, in die dunkle Ferne. 

Aus dem Kichern wurde ein Prusten. Hal Giri wirbelte mit einer für einen Mann seines Alters beachtlichen Agilität herum und deutete auf den Ursprungsort des Geräuschs – des Mädchens Versteck.

„Habe ich dich, Prinzessin!“, rief er mit gespielt boshaftem Triumph aus und sah, wie das Mädchen durch das hohe Gras davonzulaufen begann. Er folgte ihr und bemühte sich, so zu tun, als hätte sie eine Chance, ihm tatsächlich zu entkommen. Seine nackten Fußsohlen verursachten auf dem dicht bewachsenen Erdboden kaum ein Geräusch. Für einige Sekunden war er wieder ein junger Leibwächter, ein treuer Shuku, dessen Freund die Nacht war und der keinen Feind und keine Gefahr scheute. Für einen Moment war er wieder einundzwanzig und rannte mit Prinz Cha um die Wette – selbst mit zweiundzwanzig Jahren war der Prinz, der spätere König Challanka, noch ein Kindskopf gewesen, der großen Spaß an Spielen, Wettkämpfen und Freizeitvergnügen aller Art hatte.

Hal Giri hatte sich so sehr in seinen Erinnerungen verloren, dass er beinahe auf die Prinzessin getreten wäre. Sie musste gestürzt sein und lag vor ihm auf dem Boden. Kurz durchfuhr ihn ein Schrecken, doch sie hatte sich nichts getan, wie er mit geübtem Blick sofort festzustellen vermochte. Als er sah, dass sie lachte, musste er einstimmen. Wer ihn dabei beobachtete, konnte sehen, wie sich kurzzeitig ein weit verzweigtes Netzwerk aus kleinen Lachfalten zu den tiefen Furchen in seinem ebenholzfarbenen Gesicht gesellte. Wer ihn jetzt sah, wurde Zeuge des seltenen Anblicks von Hal Giris leuchtenden Augen. Und seines keuchenden, kehligen Lachens.

„Du hast die ganze Zeit gewusst, wo ich gewesen bin!“, lachte Ko und setzte sich auf. Sie war klein für ihr Alter und für den Spross eines uralten Adelsgeschlechts, von dem erwartet wurde, dass er in ein paar Jahren einen passenden Gatten ehelichte, waren ihre Haare zu zerzaust, ihre Kleider zu verschlissen, ihre Knie zu aufgeschlagen und ihre Hände und Füße zu schmutzig. Was ihren sämtlichen Hofdamen und Gouvernanten abwechselnd die Schames- und die Zornesröte ins Gesicht steigen ließ, amüsierte Hal Giri außerordentlich. Ganz wie ihr Vater.

„Ich schwöre bei den zwölf Winden, ich habe dich erst gehört, als du losgeprustet hast!“ Zur Unterstreichung ließ er seinen Worten eine Schwurgeste folgen, bei der er die Hand zur Faust ballte und seinen Daumen und kleinen Finger abspreizte.

„Ehrenwort?“ Ko zog die Nase hoch und schaute ihn misstrauisch an.

„Würde ich die ehrenwerte Prinzessin und rechtmäßige Thronerbin von Sheev’shiz, die Hüterin von Zima und Bewahrerin der geheimen Schwüre, anlügen?“

Der zweite Satzteil war ein Risiko, denn es war gut möglich – nein, sogar äußerst wahrscheinlich –, dass Kos Onkel, der ebenso ambitionierte wie durchtriebene Statthalter, Agenten in ihre Karawane eingeschleust hatte. Agenten, die sich seine Worte gut merken würden. Hal Giri interessierte sich nicht sonderlich dafür. Nicht, dass er keine Furcht kannte. Er war nur sehr gut darin, sie zu ignorieren und sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Noch dazu war er ein alter Mann. Wenn, dann sorgte er sich um das Leben des Mädchens, das er mit seinem eigenen schützen würde.

Einige Sekunden lang sah Ko ihn forschend an. Sein eigenes Gesicht blieb eine ausdruckslose Maske. Er hatte sein Spielergesicht aufgesetzt. Und es war ein gutes Spielergesicht! Ob Karten, Würfel oder Konfrontation in dunkler Seitengasse, er war gut darin, sein Gegenüber über das, was in seinem Kopf vorging, im Unklaren zu lassen. Er hatte jahrzehntelang geübt, vor feindlich gesinnten Delegationen, anderweitigen offiziellen und inoffiziellen Widersachern (einige davon privater Natur) sowie den eigenen Soldaten keine Gefühlsregung zu zeigen. Ko hielt seinem Blick trotzdem stand, ohne zu zwinkern. Bis er es tat, die steinerne Miene bröckeln ließ und letztlich lächelte. Die Prinzessin erwiderte sein Lächeln nicht, sondern wirkte mit einem Mal betrübt. 

„Wenn ich die Erbin des Elfenbeinthrons bin, was mache ich dann so weit hier draußen im Land der Nessawa, so fern vom Palast?“ Die Frage mochte zunächst unschuldig und naheliegend anmuten, doch Kos Unterton verriet Hal Giri, dass mehr dahintersteckte, als sie auszusprechen wagte. Es wunderte ihn nicht: Das Mädchen war schon immer recht reflektiert gewesen, hatte sich seit jeher weit mehr und weit komplexere Gedanken gemacht, als in ihrem Alter üblich.

„Wir haben einen Auftrag, Prinzessin.“ Hal Giri schlenderte zu einem Hügel in der Nähe herüber, wo er sich im Schneidersitz niederließ und zum sternenklaren Himmel aufschaute. Der Mond schien intensiv und tauchte ihn in milchiges Licht. Er klopfte neben sich auf den Boden und Ko seufzte und trottete zu ihm herüber. Von ihrer Unbeschwertheit war nicht mehr viel übrig, sie ließ den Kopf hängen und Hal Giri merkte, dass sie den Tränen nahe war. 

„Setz dich, kleine Prinzessin.“

„Was für einen Auftrag?“, fragte sie nur einen Moment, nachdem sie sich neben ihn hatte plumpsen lassen. Er war sich sicher, dass sie genau wusste, was von ihnen erwartet wurde, auch wenn sie vermutlich noch nicht jedes Detail verstand. Bei allen Stürmen, er verstand ja selbst nicht alles, wer konnte dem Kind, egal wie scharfsinnig es für sein Alter sein mochte, einen Vorwurf machen? Wie erklärte er es Ko am besten? Wie teilte er ihr am ehesten seine Version der Ereignisse mit? Er war kein Tutor, aber er hatte es Zeit seines Lebens – oft gegen seinen Willen –  immer wieder sein müssen. Er würde auch jetzt sein Bestes versuchen.

Hal Giri leckte sich über die trockenen Lippen und deutet hinauf in den Sternenhimmel. Ein prächtiger Anblick, aber jetzt ging es ihm nicht um funkelnde Sterne. Sie sollte sich etwas anderes genau ansehen.

„Schau, da oben. Was siehst du?“

Er musste nicht lange auf eine Antwort warten, die wie direkt aus einer ihrer Schriftrollen oder Lehrbücher klang. „Ich sehe das Sternbild der Antignope, das zwinkernde Auge, die Katze in der Tasse und den großen Rüden. Die Konstellation der Jägerin Mnutu ist …“

„Wir sind nicht im Unterricht, kleine Ko“, unterbrach Hal Giri sie sanft. „Ich will dich nicht nach den großen Sternbildern abfragen. Was du siehst, will ich wissen.“

Die Prinzessin seufzte abermals, dieses Mal kam es aus tiefstem Herzen. Das Mädchen war erschöpft. Es war längst Schlafenszeit für sie. Aber Hal Giri hörte auch Frustration darin. Frustration über ihre derzeitige Situation? Über all die Palastintrigen und Gerüchte? Er konnte nur raten.

„Ich sehe Sterne, die wir die Träume der Vorfahren nennen und den Mond, der uns als Geduldiger Vater bekannt ist. Du hast mir erzählt, er sei aus Käse. Cira nennt ihn die Säufersonne. Drac aber hält das für Blödsinn, er sagt, es handle sich dabei um eine …“ Sie suchte einige Momente nach dem sicherlich komplizierten Begriff, den ihr alter Lehrmeister ihr beizubringen versucht hatte. „Drac sagt, der Mond besteht aus Mineralien.“ Sie sprach das ungewohnte Wort langsam und sehr deutlich aus. „Das heißt: Für Drac ist der Mond einfach nur ein Stein. Er hat keine Fantasie, dieser alte Langweiler.“

Hal Giri schmunzelte. „Darauf will ich aber auch nicht hinaus. Komm schon, kleine Prinzessin. Was siehst du? Du weißt, was ich meine.“

„Aber ich will nicht darüber sprechen.“

Der Leibwächter hob eine Braue und schaute auf die kleine Prinzessin herab, die direkt neben ihm auf dem Hügel saß. Ein frischer Wind ließ das hohe Gras um sie herum leise rauschen. Er sah, dass ihr kalt war, doch sie wollte sich nichts anmerken lassen und sah stoisch geradeaus. Vermied es nun, in den Himmel zu sehen.

„Warum willst du nicht darüber sprechen?“

„Ich habe Angst.“

„Wovor hat eine so mutige Prinzessin wie du denn bitte Angst?“

Ihr Blick war strafend und erinnerte Hal Giri so sehr an ihren Vater, dass es ihm einen Stich versetzte. Auch ihre Mutter konnte derart schauen, aber der Trotz in ihrer Miene war Cha durch und durch.

„Jetzt stellst du dich aber dumm an, Hal. Ich meine dieses grässliche rote Ding mit dem langen Schweif. Hier im Westen nennt man es den Unheilbringer, wusstest du das?“

Hal Giri knurrte leise. Früher oder später musste sie dieses fremdländische Gewäsch ja aufnehmen. Es war nicht zu vermeiden. Trotzdem ärgerte er sich. Ihre Zofen und vor allem Cira, ihre persönliche Magd, mussten besser auf sie aufpassen.

„Die Menschen der Hanse, des Reichs und des Westens haben viele Namen für ihn. Darunter diesen. Aber auch wir gaben ihm einen Namen“, sagte er leise.

„Ich weiß. Shenkza, den Propheten.“

„Weißt du, was ein Prophet ist?“

Sie nickte zwar, wirkte aber unsicher. Er beschloss, es dabei zu belassen.

„Du siehst also, der Shenkza muss nicht zwingend ein böses Zeichen sein. Man hat ihn bereits in der Vergangenheit gesehen. Viele Male.“

„Eine Periode, so nennt Drac das.“

Hal wölbte eine Braue. Der alte Drac redete zu viel, wie Lehrer dies oftmals an sich hatten, das war keine große Überraschung. Viel mehr erstaunte ihn, wie leicht Ko sich die Fachbegriffe einzuprägen vermochte. Auch wenn er es besser hätte wissen sollen.

„Ja“, sagte er langsam. „Es besteht kein Grund, sich zu fürchten. Der Shenkza ist nur ein Zeichen am Himmel. Drac würde vielleicht sagen …“ Er überlegte einige Sekunden bis ihm etwas einfiel, das nach dem alten Drac klang. „Vielleicht: eine Anomalie aus dem Äther. Eventuell wollen uns ja die Geister etwas damit sagen. Vielleicht das Eru selbst. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.“ Er lächelte auf sie herab und strich ihr übers Haar. „Er verheißt sicher nichts Böses. Und doch hat dein Onkel – und haben viele andere Herrscher auf dem Kontinent – beschlossen, dass man sich mit ihm beschäftigen sollte. Auf Art der Gelehrten. Deswegen treffen kluge Männer im Kaiserreich zusammen. Deswegen sind wir dorthin unterwegs. Nach Cimberia. Dort werden sie sich austauschen. Und du und einige andere hochgestellte Persönlichkeiten reisen mit, um Sheev’shiz zu repräsentieren. So ist es Brauch.“

Er verheimlichte hierbei, dass er so seine eigenen Theorien bezüglich der Hintergründe ihres Onkels hatte, Ko zu einer solchen Zeit der Unruhe, die derzeit in Sheev’shiz herrschte, faktisch aus ihrem eigenen Königreich zu verbannen. Bei den Winden, man musste nicht Drac oder ein anderer alter Schwätzer aus dem Konzil sein, um sich das zu denken. Ihr Onkel war ein hinterhältiger Bastard und er würde alles dafür tun, um seinen eigenen Anspruch auf den Elfenbeinthron zu sichern. Aber Hal Giri musste das Kind damit nicht belasten. Zumindest jetzt nicht. Dafür ist später Zeit genug.

„Ja, ich weiß.“ Ko stützte ihr Kinn auf die Faust und schaute missmutig in die Nacht hinaus.

„Du hast immer noch Angst“, stellte Hal Giri fest. 

Die Prinzessin schwieg. Hal ebenso. Er war gut darin, einer der Besten, vermutlich. Zumindest der beste Schweiger, den er kannte. Doch ausnahmsweise störte die entstandene Stille ihn. Das Gespräch hatte nicht den Verlauf genommen, den er sich gewünscht hatte.

„Erinnerst du dich an die Geschichte … hat dein Vater sie dir nicht immer vorgelesen?“

„Meistens war das Cira. Oder … oder Mutter, als sie noch …“ Ko verstummte abrupt und er erkannte, wie traurig sie der bloße Gedanke an ihre Mutter machte. Das war nun überhaupt nicht der Effekt, den ich erzielen wollte.

„Du erinnerst dich also“, sprach er demnach hastig weiter, um nicht das Momentum zu verlieren. „Das ist gut. Sehr gut. Denn die Geschichte ist wahr, wie du weißt! Ich wette, du kannst inzwischen mitsprechen, aber lass mich erzählen.“ Er räusperte sich.

„Es war einmal vor vielen, vielen Jahren, als die Kinder der Savanne große Sorge und Traurigkeit plagte, denn die Freude war aus Sheev’shiz gewichen und durch Trauer und Schmerz ersetzt worden und selbst die kleinen Kinder der Savanne hatten nicht mehr viel, worüber sie sich noch freuen konnten. Es war zu dieser Zeit, da der Geduldige Vater beschloss, einen Stern zu erschaffen, an dem sich die Kinder der Savanne erfreuen und so ihre Sorgen vergessen sollten. Dieser Stern war nicht weiß oder gold wie die meisten anderen Sterne – nein, dieser Stern war rot, damit die Kinder ihn sofort erkennen konnten. Der Geduldige Vater hatte dem Roten Stern eine besondere Aufgabe zugedacht: ‚Stern‘, sagte der Geduldige Vater, ‚du sollst über den Horizont ziehen und dir die Wünsche und Träume der Kinder anhören. Vor allem die der braven Kinder, aber auch die unartigen sollen sich an dich richten können. Und wenn sie ganz fest an dich glauben, dann sollen ihre Träume in Erfüllung gehen.‘ Und so geschah es, dass der Rote Stern seine Bahnen zog. Die Kinder der Savanne schauten zum Sternenhimmel auf und sahen sein warmes rotes Glühen schon von Weitem und ihre Augen glänzten vor Wunder und ihre Gesichter strahlten vor Freude. Und ein jedes Kind dachte sehr stark an den Roten Stern und an seine Träume und Wünsche. Und mit jedem Traum und mit jedem Wunsch eines jeden Kindes der Savanne wurde der Rote Stern noch größer und strahlte noch heller und er freute sich über all die schönen Träume und Wünsche, die er in sich aufnehmen durfte. Und die Kinder staunten und frohlockten, denn der Stern sah nun wahrlich prachtvoll aus und er strahlte hell und warm und ließ sie ihre Sorgen vergessen. Und jedes artige Kind (und ja, auch ein paar von den unartigen), das besonders fest an den Stern dachte und sich besonders stark etwas wünschte und dessen Träume dem Stern besonders schön und erfüllenswert erschienen, erlebte eine Überraschung, denn sein Traum wurde wahr. Die Kinder der Savanne freuten sich und winkten dem Stern nach, bis er nicht mehr zu sehen war, weil er wieder im Äther verschwunden war. Seither sendet der Geduldige Vater ihn alle paar hundert Jahre wieder zu uns, damit die Kinder der Savanne ihn als Zeichen der Hoffnung und des Glücks erkennen und ihm ihre Wünsche schicken. Und vielleicht, wenn du besonders artig bist (aber eventuell auch, wenn du nicht so artig bist, dann muss dein Traum aber besonders schön sein), geht auch dein Wunsch in Erfüllung.“  

Ko lächelte und nickte langsam vor sich hin. Man konnte ihr die Erinnerungen an bessere Tage, die sie glücklich mit ihren Eltern verbracht hatte, ebenso vom Gesicht ablesen wie die Freude an der Geschichte selbst, die sie schon unzählige Male gehört hatte und immer noch liebte. Doch die freudige Miene hielt sich nicht lange in ihren Zügen.

Bald lächelte sie nicht mehr. Bald schwieg sie wieder und Hal Giri tat es ihr gleich, denn er wollte sie nicht drängen. Es war spät, aber eine halbe Stunde mehr oder weniger machte jetzt auch nichts mehr aus. Er selbst würde vermutlich heute Nacht ohnehin keinen Schlaf mehr finden. Er war es gewohnt, mit wenig Schlaf auszukommen, anders als die Prinzessin. Aber sie würde auch während der Reise in ihrer Kutsche schlafen können. Seiner Erfahrung nach konnten Kinder, und das hatten sie mit Soldaten gemein, fast überall und zu jeder Zeit schlafen.

„Ich mag diese Geschichte sehr, Hal“, sagte sie schließlich.

„Aber?“, fragte er, an ihrem Tonfall zweifelsfrei erkennend, dass sie noch mehr sagen wollte.

„Es ist nur eine Geschichte. Nicht echt. Aber der Shenkza, der ist echt.“

„Wer sagt, die Geschichte ist nicht echt?“ Hal Giri verschränkte die Arme und hob eine Braue, Ko tadelnd anschauend.

„Oh, hör schon auf!“ Ko knuffte ihn gegen die Schulter, was sich auf diesem Kontinent tatsächlich nur ein Mitglied der königlichen Familie erlauben durfte. „Ich bin ein Kind, aber ich bin nicht dumm.“

„Du bist die sicherlich klügste Prinzessin weit und breit. Und weil du so klug bist, wirst du früher oder später auch verstehen, dass es zum jetzigen Zeitpunkt keinen Sinn macht, Angst zu haben.“

„Das sagt sich leicht für einen Shuku der Garde. Aber ich bin ein kleines Mädchen.“

„Ohoho“, lachte er ton- und humorlos und wedelte abwehrend mit seinem Zeigefinger, der für sie immer besonders interessant aussah, da ihm seit einer Begenung mit der Klinge eines nordischen Söldners die Kuppe fehlte, vor ihr in der Luft herum. „Dieses spezielle Argument nutzt du nur, wenn es dir dient. Ich wette, schon morgen wirst du mich wieder bitten, dich nicht wie ein kleines Mädchen zu behandeln und dir endlich ein paar fortgeschrittene Griffe und Würfe beizubringen“, tadelte er sie feixend.

Ko seufzte lautstark. „Hast du nie vor etwas Angst? Vor der Nacht zum Beispiel? Oder vor bösen Zeichen wie dem da oben?“

Er sah, dass es sie fröstelte, und legte einen Arm um ihre Schulter. „Die Nacht fürchtet sich vor mir, Prinzessin.“ Er grinste verwegen, was seinem wettergegerbten Gesicht einen ungewollt unheimlichen Anstrich gab. Da er aber wusste, dass dies wiederum keine zufriedenstellende Antwort für die Prinzessin darstellte, wurde er im nächsten Moment schlagartig wieder ernst und sah sie eindringlich an.

„Sieh es so, kleine Ko: Der Shenkza ist dort oben, wir hier unten. Er wird größer. Das heißt, er kommt vermutlich näher. Aber was bedeutet das für uns? Es kann alles bedeuten. Um Antworten zu finden, reisen wir nach Cimberia. Dort werden sich die klügsten Männer unter der Sonne über den Shenkza beraten und Antworten für uns finden.“

Er hatte die schlurfenden Schritte schon eine ganze Weile vernommen und sprach erst weiter, als er sicher war, dass der Neuankömmling in Hörweite war.

„Nun, die klügsten Männer unter der Sonne … und Drac.“ Damit wandte er sich zum Obersten Tutor um, dem führenden Gelehrten von Sheev’shiz und ältesten Mitglieds des Grauen Konzils, einer Art obskurem Gremium, selbstredend benannt nach der üblichen Haarfarbe seiner ausschließlich männlichen Mitglieder, das den amtierenden Herrscher beriet.

Zumindest theoretisch war dies Dracs Funktion, aber seit Kos Onkel im Hintergrund die Fäden in Sheev’shiz zog, war er mehr oder weniger vollständig auf seine Rolle als Hauslehrer der Prinzessin beschränkt. Nicht, dass dies seine hochmütige Art und seinen Hang zu herablassenden, mit komplizierten Termini gespickten Sermonen irgendwie milderte. Die Welt mochte anders denken, aber Drac hielt sich noch immer für sehr wichtig. Normalerweise hatte Hal Giri keine Geduld für geckenhafte Gelehrte, aber in Dracs Fall machte er eine Ausnahme. Er war nun in der Regel kein Mann, der besonders emotional war, aber ehemalige Liebhaber pflegte er stets mit einem Mindestmaß an Respekt zu behandeln. Und Drac hatte noch immer einen Platz in seinem Herzen, auch wenn sich die Dinge geändert hatten.

„Wer sonst sollte hier zu solch früher Stunde unsere kleine Prinzessin Ko vom Schlafen abhalten, als ihr ältester Komplize.“ Drac, ein großer und nachlässig gekleideter Mann, den das Alter und ein Hang zu geistigen Getränken inzwischen etwas gebeugt und aufgedunsen hatten werden lassen, sah sie alle beide strafend an.

„Immer wachsam, Drac. Ich habe einen Eid geschworen.“

„Dein Eid besagt nur im übertragenen Sinne, dass du niemals schlafen sollst. Und fällt es nicht auch unter Wachsamkeit, die Gesundheit der Prinzessin zu jeder Zeit zu erhalten?“

Der Tutor und einst so geachtete Konzilliere trug eine warme Decke unter der Achsel, die er Ko hinhielt. Die Prinzessin nickte dankbar und erst jetzt merkte Hal wirklich, wie kalt es geworden war. Ko hielt sich tapfer, zitterte nun aber sichtbar. Sie alle waren im Grunde viel zu dünn angezogen für diese Breitengrade und er würde in der Tat darauf achten müssen, dass die Prinzessin es im Westen stets warm genug hatte. 

„Selbst für mich ist es zu spät, um mich mit dir über die Auslegung unserer Eide zu streiten“, sagte er und sah seinem kondensierten Atem nach, dessen Wölkchen binnen weniger Sekunden mit der Nacht verschmolzen. Die Seele flieht vor der Kälte, so lautete ein altes Sprichwort ihres Volkes, das er nie so recht verstanden hatte. Warum floh die Seele aus dem warmen Körper an die kalte Luft? Wohin floh sie? Auf eine der Sonneninseln vor der Delfinküste? Dummes Zeug.

„Ha!“, machte Drac und schnalzte mit der Zunge. „Natürlich willst du nicht debattieren, du sturer alter Kempe. Du weißt, dass du ohnehin jedes Argument verlieren würdest.“

Hal schaute den Gelehrten amüsiert an und winkte ab. „Ich bin tatsächlich nicht in Stimmung für einen geistigen Wettstreit. Und ja, in der Hinsicht erscheine ich ohnehin unbewaffnet zum Duell“, kam er dem uralten Witz zuvor, den Drac gerne an dieser Stelle loswurde. Der Gelehrte schaute etwas pikiert, obwohl er es inzwischen hätte gewohnt sein müssen, von seinen Gesprächspartnern überrumpelt zu werden. Drac war klug, er war eloquent, aber er war garantiert nicht schlagfertig.

„Ich werde mich zur Meditation zurückziehen,“ gab Hal bekannt und erhob sich.

„Nun denn. Eine geruhsame Nacht wünsche ich – egal, wie du sie verbringst.“ Drac nickte ihm zu und schlurfte zu einem großen Stein in der Nähe, auf dem er Platz nahm. Von seiner Schulter nahm er einen Leinenbeutel, in dem er, wie Hal wusste, Federkiel, Tinte, einige Bücher und anderen gelehrten Krimskrams mit sich herumzuschleppen pflegte. Nun langte er hinein und zog eine wuschelige Mütze aus graumeliertem Schuppenfell hervor.

Hal unterdrückte ein Prusten, als der ehrenwerte alte Tutor, einer der größten Gelehrten ihrer Zeit, wie man einst munkelte, den lächerlichen Kopfputz samt buschigem Ringelschwanz, den der Schupp zu Lebzeiten sein Eigen genannt hatte, ganz selbstverständlich auf seinem Haupt platzierte. Sein nächster Handgriff galt seiner überlangen Pfeife, die er mit geübten Bewegungen stopfte. Hal schüttelte langsam den Kopf, denn kleine Gesten wie diese waren es, die ihn daran erinnerten, warum er einmal etwas für diesen Mann empfunden hatte.

Drac sah auf. „Was ist denn noch? Wolltest du nicht meditieren?“

„Oh, ich bewundere lediglich deinen Hut.“

„Den hat ein äußerst weiser Mann aus dem Westen mir einst geschenkt! Es ist hier Mode, solch eine Mütze zu tragen. Weißt du, wie sie den Schupp hier nennen? Waschbär! Und weißt du noch was? Sein Fell ist dick, kuschelig und warm. Du wirst dir auch noch solch eine Kopfbedeckung wünschen, Hal Giri! Denn auch dein Haar ist nicht mehr so voll, wie es mal war!“ Der Tutor entzündete seine Pfeife und blies selbstzufrieden Rauchringe.

Hal hüstelte leise. „Du bist selbstverständlich der Gelehrte hier. Aber zum königlichen Tuchmeister wirst du es nie bringen. Tut mir leid, dir das sagen zu müssen.“

Drac winkte unwirsch ab. „Immerhin trage ich nicht seit beinahe vier Dekaden denselben lila Mantel. Ich weiß nicht, was du an dieser Farbe findest. Und ein Shuku trägt doch wohl normalerweise schwarz!“

„Echte Männer tragen violett“, entgegnete Hal schroff, ließ dem aber rasch ein Zwinkern folgen. Er wusste nicht, wie oft sie dieses Gespräch bereits geführt hatten. Das war nicht derselbe Mantel! Das war sicherlich inzwischen der fünfte Dienstmantel, den er sich hatte anfertigen lassen. Kopfschüttelnd wandte er sich ab. Es war wirklich Zeit, zu gehen. 

Ko erhob sich nun ebenfalls und umarmte Hal – beziehungsweise seinen Oberschenkel. Wie gesagt war sie klein für ihr Alter. „Ich wünsche eine gute und friedliche Nacht – ohne Alptraum und ohne Schlacht“, zitierte sie ein altes Lied, das Hal nie für große Lyrik gehalten hatte, das sich aber seit Generationen hartnäckig hielt.

„Die wünsche ich dir ebenfalls, Prinzessin. Wenn Drac dich in den Schlaf zu reden droht, tu ihm bitte den Gefallen und gehe zu Bett. Ich werde ein Auge auf dich haben, auch wenn du mich vielleicht nicht sehen wirst.“

„So wie immer!“, lächelte sie.

„So wie immer.“ Damit machte er kehrt und marschierte auf den höchsten Hügel in der Umgebung zu. Ein guter Platz, um zu sich zu kommen. Und trotzdem alles im Auge zu behalten. Er schaute über die Schulter, weil er wusste, dass Ko ihm zum Abschied noch winken würde. Er hob die Hand. Sein Lächeln war warm und herzlich.

Er betrachtete das Mädchen voller Liebe. Es mochte kitschig klingen, es war auch kitschig, aber Prinzessin Ko gab ihm Kraft und Lebensmut. In ihrer Gegenwart fühlte er sich – zumindest in manchen Augenblicken – nicht mehr ganz so alt und verloren. Auch wenn sie keine Blutsverwandten waren, so fühlte er sich doch als Teil ihrer Familie, auch wenn viele hochranginge Kem dies als Anmaßung – ja, als Beleidigung – empfunden hätten. 

Aber er gab keinen feuchten Furz auf die Amtsträger zu Hause, die ihn verachteten. Er war ein Vertrauter König Challankas gewesen und hatte es versäumt, an seiner Stelle zu sterben, als es darauf ankam. Er konnte den Hass und den Spott, den sie ihm entgegenbrachten, auf gewisse Weise verstehen. Er verstand sogar ihre lächerlichen politischen Ambitionen und ihre Ränkespiele. Aber er würde nicht zulassen, dass Chas Tochter ebenso in diesen Sumpf gezogen wurde wie ihr Vater.

Er erklomm den Hügel und setzte sich ins Gras. Die Sterne funkelten über ihm und inmitten dieser glitzernden Pracht flackerte der Shenkza auf. Er wirkte ebenso fehl am Platze wie ein glühendes Stück Kohle, das man mitten zwischen auf ein schwarzes Seidenkissen gebettete Diamanten geworfen hatte. Wenn Hal ganz ehrlich war, beunruhigte ihn dieser Anblick mehr, als er je für möglich gehalten hätte. Der Komet wurde größer. Er musste also näherkommen. Trotzdem stand er zu seinem Wort: Es hatte keinen Sinn, sich zu diesem Zeitpunkt von Angst übermannen zu lassen.

Wieder dachte er an das Kind und damit an unmittelbarere und reellere Probleme. Ko vor den Missetaten ihres Onkels zu schützen, war eine Sache. Er war ein Shuku, egal für wie abgehalftert man ihn halten mochte. Mit Bo, Faust und Wurfstern konnte er Assassinen abwehren, durch seine geschärften Sinne Gifte im Essen oder in der Luft erkennen. Auch wenn er sich seiner sechsten Lebensdekade näherte, war er noch immer ein ernstzunehmender Gegner für jeden Mann, der die Hälfte seiner Jahre mit ihm teilte, davon war er überzeugt. Mochten die Kem ihn für einen Kindergärtner halten, eine Stillmagd. Sollten sie ihn hinter seinem Rücken einen gescheiterten alten Leibwächter nennen, einen Niemandsmann, der keinen Herren mehr hatte, weil er ihn hatte sterben lassen.

Hal Giri würde ihnen allen ins Auge spucken und jeder Gefahr trotzen, sich jedem Killer stellen, den sie in petto hatten. Er würde für das Mädchen sterben, wenn es sein musste. Er würde nicht zweimal denselben Fehler machen. Und wenn er einen Himmelskörper vernichten musste, um ihr Leben zu retten, so dachte er mit einem finsteren Blick auf das rot lodernde Ding am Himmel, dann würde es so sein.

Er seufzte und schloss die Augen. Atmete die klirrend kalte Nachtluft ein. Ruhig und kontrolliert ließ er den Atem entweichen. Was er jetzt vor allem brauchte, war Ruhe. Zeit zum Nachdenken. Er ließ seine Gedanken eine Weile schweifen, begab sich mental in einen ruhigen, abgeschotteten Raum, den er für solche Gelegenheiten angelegt hatte, den er aber in letzter Zeit nur selten betrat. Immerhin musste er wachsam sein. Doch für einen kurzen Moment würde er es riskieren. Es ging ihm zu viel durch den Kopf und wenn er sich keine Auszeit nahm, würden Reaktion und Wahrnehmung darunter leiden. Also dachte er nach.

Zum Beispiel über andere Männer. Partnerschaften unter Männer waren im Osten nichts Ungewöhnliches, aber sie hatten ein deutliches Manko, wie Hal dieser Tage, und vor allem in diesem Moment, schmerzhaft feststellen musste: Männer konnten keine Kinder bekommen. Und Männer wie er adoptierten keine Kinder. Jetzt nicht mehr. Es war zu spät, eine eigene Tochter zu haben. Aber er würde alles daransetzen, um Ko, um diesem unschuldigen Kind, ein schönes Leben und eine perspektivreiche Zukunft zu ermöglichen. Alles, was in seiner Macht stand. Realistisch betrachtet mochte das nicht viel sein, aber er war Zeit seines Lebens unterschätzt worden. Dabei hatte er festgestellt, dass es besser war, unterschätzt als überschätzt zu werden. Unvorsichtige Feinde waren leichtere Gegner. Und er würde sie lehren, was es hieß, Hal Giri zu unterschätzen.

Ihn und das Mädchen, dessen Leben zu schützen seine heilige Pflicht war. Kos Ausbildung würde weitergehen, auch wenn sie im Geheimen stattfinden musste. Er würde für sie sterben – vermutlich war es nur eine Frage der Zeit. Und wenn dieser Tag gekommen war, musste Ko – so leid es ihm tat – auch selbst auf sich aufpassen können.  

Ein Flattern in der Luft ließ ihn aus seinen finsteren Gedanken hochschrecken, was nicht so schlimm war, denn immerhin hatte er es zwar geschafft, sich in meditative Trance zu versetzen, hatte aber letztlich doch nur wieder über Kos Sicherheit nachgedacht, wie er verstimmt feststellte. Trotzdem verhieß ein Flattern in der Luft erfahrungsgemäß meist wenig Gutes.

Doch er war höchstens eine Sekunde lang alarmiert. Er wusste nämlich, was sich da auf leisen Schwingen näherte, und streckte in freudiger Erwartung den Arm aus.

Sturmschnabel war ein Regenbogen-Accipitri und wog, trotz seiner eindrucksvollen Spannweite von beinahe fünf Ulnas oder Unterarmlängen, allerhöchstens so viel wie ein mageres Lindwurmjunges. Sein dichtes Federkleid war weich und unglaublich bunt, die Facetten der Farbpalette konnten den Betrachter über Stunden faszinieren und immer neue Details erkennen lassen. Sein Schnabel war gebogen und spitz, seine breiten Klauen scharf. Und doch war er ein sanftmütiger und treuer Begleiter und landete mit so delikatem Feingefühl auf Hal Giris Arm, dass der leichte Stoff seiner violetten Robe nicht einmal angekratzt wurde. Einen Falknerhandschuh würde er in Sturmschnabels Fall nie benötigen. Dennoch konnte der Vogel den Arm eines Mannes in wenigen Augenblicken zerfetzen, wenn er es darauf anlegte. Denn welchen Sinn hatte ein Jagdvogel, wenn er seine Beute nicht töten konnte?

„Aber das würdest du nie tun, mh?“, gurrte Hal und streichelte dem Greifvogel die Kehle. Sturmschnabel, der aus der legendären Jagdvogelzucht des Königshauses stammte, und den eine noch weitaus jüngere Ko einst sehr zu Hals Leidwesen auf den offiziellen Namen ‚Lars‘ getauft hatte, den sie in einem nordischen Märchen gelesen und vergnügt für den Jungvogel ausgesucht hatte, quittierte dies mit einem freudigen kleinen Quieken und schmiegte sich an die raue dunkle Hand des alten Leibwächters.

Der Regenbogen-Accipitri war seit Jahren sein treuer Begleiter und ein nützliches Tier auf Reisen. Nicht nur fraß er Ungeziefer und zeigte drohende Gefahren wie Unwetter durch Farbänderungen im Gefieder an, nein, er war sogar intelligent genug, um als fliegender Späher eingesetzt zu werden. Hauptsächlich aber war der Vogel sehr hübsch und es galt als Besonderheit, wenn ein Accipitri Freundschaft mit einem Menschen schloss. Hal Giri war am Ende des Tages auch einfach stolz auf einen solch außergewöhnlichen Freund.

„Nein, nein. Du bist Papas Liebling. Hast du fleißig Beutelratten gejagt? Die sollen hier besonders fett und lecker sein! Was sagst du?“ Hal drückte sein Ohr näher an den Kopf des Vogels, der ihm einen liebevollen Stoß gab. „Du willst singen? Na fein. Warte.“

Hal griff in seine Robe und fand in einer der ins Innenfutter eingearbeiteten Schlaufen, in denen neben einigen Wurfsternen auch eine unzerbrechliche, fest versiegelte Phiole mit Gift steckte, mit dem er seine Klingen im wirklichen Ernstfall gerne bestrich, seine alte Naap-Flöte. Diese bestand aus einem halben Dutzend Bambusröhren unterschiedlicher Länge, die er als junger Mann selbst geschlagen und zurechtgeschnitzt hatte, bis sie die perfekten Bauteile für eine Flöte auf Meisterniveau ergaben. Er selbst hatte es nie aufs Meisterniveau gebracht, was seine Spielkünste anging. Genau genommen war sein Flötenspiel fast ebenso gefürchtet wie es seine Handkante dereinst gewesen war. 

Er zog das Instrument hervor und hielt das Mundstück des längsten Röhrchens an seine trockenen Lippen. Während er auf dem anderen Arm Sturmschnabel balancierte, fing er an, eine gleichermaßen melancholische wie schiefe Melodie zu spielen, während der Vogel krächzende Laute von sich gab, die nur entfernt an Gesang erinnerten. Was Hal beim Flötespielen nicht vermochte, konnte auch die fragwürdige Gesangskunst des Vogels nicht retten.

So saßen sie eine Weile da. Das hörte sich nicht schön an und hätte wohl auch bei jedem anderen Mann albern ausgesehen. Bei jedem anderen Mann. Aber nicht bei Hal Giri.

Traumzeit

Schweiß, Hitze, Keuchen, Hecheln – verzweifelte kleine Schreie, irgendwo weiter hinten. Selbst die Nacht verspricht hier unten keine Linderung. Die Welt um sie herum dampft. Selbst die Finsternis des Dschungels verbirgt sie nicht vor den Augen ihrer Verfolger, wenn sie auch selbst kaum etwas sehen können. Sie werden sich die Hälse brechen, noch ehe der Feind sie erwischt. Die Fjeng-Kobolde sind schlimm, aber ihre Cousins, die Fjeng-Nabuk, sind schlimmer. Groß, schnell, gnadenlos und tödlich mit ihren Klingen aus geschliffenem Obsidian.

Du siehst sie nicht kommen, denn sie sind eins mit der Nacht. Du hörst sie nicht, wenn sie sich anschleichen, denn sie sind Teil des Urwaldes. Du weißt gar nicht, was dich erwischt, wenn es so weit ist. Entweder das oder sie hängen dich an deinen Achillessehnen auf. Liane durch und ab dafür.

Mach dir keine Hoffnungen, deine Schreie wird man nicht hören. Dafür sorgen sie. Und am Ende schneiden sie dir Eier und Wurst ab und stopfen sie dir in den Mund. Einfach so, weil sie’s können. Und weil sie damit allen, die nach dir kommen, eine Heidenangst einjagen.

So muss es sein. Bei ihm wirkt diese Terrortaktik jedenfalls ganz wunderbar.

Schweiß, Hitze, Keuchen, Hecheln. Laute Schreie von vorn.

Schwarz. Dunkelgrau. Anthrazit. Ein noch satteres Schwarz. Eine Welt aus Kohle, Öl, Schiefer und Granit. Keine Farbe, keine klaren Formen – nur Schlieren aus Dunkelheit, die jede Orientierung unmöglich machen.

Er stolpert, er fällt, er rappelt sich auf. Er weiß nicht, wohin er flieht, aber er flieht. Flieht durch eine träge Schwüle, die ihn einhüllt, die ihn durchtränkt und niemals aus ihrer klebrigen Umarmung fortlässt. Er rennt, er strauchelt, er keucht und spuckt. Er flieht durch den Dschungel.

Vielleicht flieht er noch immer.

Ein Ruck geht durch die Welt. Fühlt sich ein bisschen an, als würde er schweben.

Dann schwebt er wirklich. Nein, er schwimmt. Er hätte nie gedacht, dass er mal ertrinken würde. Er ist am Meer aufgewachsen, was an sich noch lange nicht heißt, dass er zwingend schwimmen können müsste, aber er hat es früh gelernt. Er kann es ganz passabel. Er ist Marinesoldat. Das Wasser ist sein Freund.

Aber das hier ist kein Meerwasser. Kein Salz, keine erfrischende Kühle.

Dies ist Tümpelwasser. Süß, warm, abgestanden.

Er will nicht in Tümpelwasser ertrinken.

Er will gar nicht ertrinken, aber erst recht nicht hier im Morast!

Er strampelt und seine Lungen drohen zu zerbersten. Er spürt die Klauen im Nacken, die ihn niederdrücken. Es müssen drei, vier oder mehr von den kleinen Wichsern sein.

Seine Welt ist braun. Er kann Schemen an der Wasseroberfläche ausmachen. Er will atmen. Er sieht die Grimassen der Kobolde verzerrt über sich. Er schlägt und er strampelt und er merkt, wie ihn die Kraft verlässt.

Er spürt etwas in seinem Ohr. Fühlt sich schleimig und eklig an, aber angesichts der Tatsache, dass er ertrinkt, hat er jetzt keine Muße, sich auch noch damit auseinanderzusetzen.

Seine Hände fahren über Sand, kleine Schlingpflanzen, über Steine, die zu klein sind, um als Waffen effektiv zu sein. Über wieder andere, die zu groß sind. Zu glatt. Zu schwer, zu gleichmäßig. Ein Fundament. Muss zu den alten Ruinen gehören.

Die Ruinen. Wieso ist er hergekommen, zu dieser Stadt der Toten? Um zu sterben, lautet die ebenso einfache wie passende Antwort.

Er muss raus. Er muss nach oben. Er muss.

Sein Sichtfeld schränkt sich noch mehr ein. Er verliert das Bewusstsein.

Doch zuvor wird er Wasser schlucken. Widerliches Brackwasser.

Schon hat er einen Mundvoll genommen. Noch ist nichts in seiner Lunge. Es schmeckt, wie es riecht. Er will kotzen. Noch mehr will er atmen. Er will, dass es vorbei ist.

Er bekommt seinen Wunsch, wie’s scheint. Er atmet schließlich das Wasser ein, kann einfach nicht anders, und sein ganzer Körper scheint erst aufzuschreien, um dann abrupt zu verstummen. Es ist, als hätte man ihm Teer in den Brustkorb gefüllt. Er spürt nichts mehr.

Er stirbt.

Er stirbt nicht.

Ein Ruck geht durch die Welt. Ein bisschen, als würde er fliegen.

Feuer, Rauch, Schreie.

Vielleicht ist er hingefallen. Schwer zu sagen. Ihm ist, als würde er aufstehen.

Feuer, Rauch, Schreie.

Der armlange Pfeil fährt in die Augenhöhle des Jungen und bleibt zitternd stecken. Er schaut fragend, während das Blut an den Rändern des Pfeilschafts entlangrinnt. Seine Lippen formen Worte, die niemand versteht. Er taumelt und seine Beine knicken ein. Sein Leben erlischt.

Feuer, Rauch, Schreie.

Rote Schlieren, gelbe Schlieren. Eine Sonne, die unbarmherzig brennt.

Ein Knall scheint die gesamte Welt verstummen zu lassen. Es fiept in seinen Ohren. Ein abgerissener Kopf segelt über den Schützengraben, gefolgt von Blut und Dreck und dem heißen Wind, den die Detonation verursacht hat und der nun Leichengeruch und den beißenden Gestank des Knallpulvers, dem neuesten Schrei der Kriegstechnik, herüberweht. Sie sind wahre Künstler im Umgang mit diesem aus Übersee importierten Dreckszeug, diese götterverdammten Bastarde. Kreativ, gestört und skrupellos.

Fast glaubt er, dass er sie kichern hören kann. Natürlich Blödsinn. Er hört gar nichts. Er sieht auch fast nichts, weil er Erde und Blut im Gesicht hat, aber er zwingt sich trotzdem, über den Rand des Grabens zu schauen.

Das Niemandsland liegt zwischen ihrer Stellung und dem Widerstandsnest der Fjengs, einer lächerlichen Ansammlung von Koboldbauten umringt von mehreren Gräben. Es können nicht mehr als zwei oder drei Dutzend von ihnen sein, aber sie sind schnell, furchtlos, gute Schützen mit Pfeil und Bogen und sie haben völlig den Verstand verloren.

Wenn er nur einen Bruchteil des Knallpulvers hätte, das diese kleinen Wichser von irgendwoher reingeschmuggelt haben – jeder weiß, dass die Großreiche von jenseits des Meeres ihre Revolte in Karra-Feng unterstützen, nur wer genau dieses verdammte Zeug liefert und wie, weiß ein Frontschwein wie er natürlich nicht, woher auch? – er würde diesen beschissenen Konflikt noch heute beenden. Diese Kobolde einfach ausräuchern und in ihre Anderswelt schicken.

Doch er hat nur die Ressourcen, die man ihm zugeteilt hat. Er blickt nach hinten. Bei ihm im Graben hocken noch zehn Mann, mehr sind nicht übrig. Entermesser, improvisierte Keulen, eine Armbrust.

Die Rekruten sind bleich, die meisten haben sich übergeben. Einer hat sich sogar in die Hose geschissen. Das auch noch. DAS auch noch. Es stinkt erbärmlich. Er kann mit diesen Kerlen nicht kämpfen, verdammte Scheiße!

Feuer, Rauch, Schreie.

Der Katapult wird wieder ausgelöst. Gleich fliegt die nächste Bombe zu ihnen rein.

Die Rekruten versuchen geradezu, sich untereinander zu verstecken. Er brüllt sie an. Er tritt sie, er schlägt sie, er droht ihnen mit Tod, Schimpf, Schande, Verderben und allem, was ihm einfällt.

Sie müssen es tun. Es tut ihm leid um sie, um die, um all das hier. Es hilft nichts. Wenn sie das hier überleben wollen, müssen sie das Dorf nehmen. Sie müssen.

Feuer, Rauch, Schreie und das Gefühl, dass dies das Ende ist. Dieses Mal wirklich.

Jetzt kommt es knüppeldick. Jetzt sterben sie. Er wird nie nach Hause zurückkehren. Auch egal. Er hat niemanden dort.

Alle haben ihn vergessen. Er ist hier draußen, im Dschungel. Allein unter Kameraden.

Feuer, Rauch, Schreie.

Er erinnert sich nicht, den Befehl gegeben zu haben.

Die Welt ist rot. Durch und durch rot. Da sind nur noch Angst und blanker Zorn – eine animalische Mischung. Er weiß nicht, ob jemand hinter ihm ist oder ob er ganz allein gegen den Feind stürmt.

Es kümmert ihn auch nicht. Es muss getan werden. Es muss einfach, frag nicht weiter. Handle. Taten sagen mehr als Worte – für die Hanse, für … ja, wofür eigentlich?

Scheiß drauf. Renn. Die Augen blitzen irre. Die Zähne auch. Wenn er’s durchs Niemandsland schafft, sind diese Pisser geliefert. Natürlich erwischen sie ihn vorher. Aber es muss sein. Es muss sein.

Die Welt ist rot. Rot wie Blut.

Feuer, Rauch, Schreie.

Die Welt besteht aus Blut und Stahl.

Nicht alle, die er da heute tötet, haben es verdient zu sterben. Einige von denen haben nicht mal eine Waffe. Einige von denen scheinen ihn in ihrer Sprache anzuflehen.

Nix verstehen.

Wenn die Maschine läuft, dann läuft sie.

Immer weiter, Junge. Hacken, Stechen, Parieren, Riposte und dann entleibe den Bastard!

So ist’s gut. So ist’s gut!

So ist’s gut, Breitarsch.

Ein Knistern, ein Windzug, ein kehliges, blubberndes Geräusch, das weder Schrei noch Grunzen ist und eher klingt wie ein Suppe schlürfender Riese mit schlechten Tischmanieren.

Kurz sieht er einen Riesen dort sitzen. Er zwinkert ihm zu. Dann fällt er mit dem Gesicht in die Suppe. Er schnarcht. Luftbläschen steigen auf.

Kurz sieht er sich selbst, wie er in einem Tümpel liegt. Er versteckt sich. Er atmet durch ein Bambusrohr. Irgendetwas ist dort draußen, er weiß nicht mehr was. Der schwarze Mann? Der Feind? Spielt er verstecken, sind es seine Freunde?

Wo ist er?

Wann ist er

Wer ist er eigentlich?

Ein Knistern, ein Windzug, das kehlige, blubbernde Geräusch.

Ein Fjeng-Kobold zieht von ganz unten die Rotze hoch und spuckt aus. Direkt auf eine Hanseflagge. Dann tanzt er, dabei grinsend seine Goldzähne zeigend. Dieser Bastard, dieses Schwein!

Kurz sieht er sich selbst, wie er sich übergibt. Besoffen, durchzecht, kaputt, verloren, irgendwo im halbrealen Urschlamm, im nie endenden, zähen Matsch eines verregneten Bergdorfes, das die Welt vergessen hat.

Kurz sieht er Feldweybel Nekker. Sein Blick ist leer, die Haut ist grau. Wo sein Hals war, ist jetzt nur noch ein hölzerner Pfahl.

Kurz sieht er Glatze May. Glatze May hat nicht mal mehr eine Glatze, da ist nur noch rohes Fleisch. Seinen haarlosen Skalp haben die Fjengs.

Ein Knistern, ein Windzug, ein kehliges, blubberndes Geräusch.

Das Knistern ist ein ledriges Flattern. Keine Fledermaus, Glatze Mays Skalp, der durch ein Unwetter fliegt. Er hält sich tapfer, aber er hat keine Chance. Die Flughunde kriegen ihn, sie kriegen ihn immer. Die Fleischfresser. Die Fleischfresser. Fleisch. Überall Fleisch. Die Welt ist aus Fleisch gemacht. Aus Fleisch und aus jenen, die es fressen.

Kurz sieht er einen Hafen. Alle Schiffe brennen. Es sind Dschunken und Koggen, aber vor allem kleine Fischerboote. Oben im Dorf brennt es auch. Niemand überlebt das. Niemand kann das überleben.

Da ist ein Knistern, da ist ein Windzug, da ist ein kehliges, blubberndes Geräusch, da ist ein Zischen wie wenn man Lampenöl ins Lagerfeuer gießt.

Kurz sieht er eine menschliche Fackel.

Kurz sieht er einen Riesen, der lacht. An seiner Lanze klebt dick und zäh das Blut. 

Ein Knistern, ein Windzug, ein kehliges, blubberndes Geräusch, das von links kommt und immer lauter wird, näherkommt, bis er es endlich erkennt!

Hätte er drauf kommen können.

Kurz sieht er sich selbst dort stehen, hoch oben auf einer hölzernen Plattform, die sich an ein Gebäude schmiegt, das nicht von Menschenhand geschaffen ist. Das ist auch kein Gebäude. Er kennt den Fachbegriff nicht. Es ist Natur. Sie haben es gemacht. Wie auch immer sie das geschafft haben, sie sind ja nur Viecher, aber sie haben das gebaut.

Er hat noch nie so abstoßende Tiere gesehen. Wie die Libellen daheim, nur groß wie zwei Kutschen mit einer Spannweite wie die mächtigsten Lindwürmer. Riesige Facettenaugen, die ihn an Handbälle erinnern – besonders rote, besonders hässliche. Die Körper komplett bedeckt von stacheligen, borstigen Haaren. Lange Rüssel, am Ende trichterförmig wie die Posaunen der Hanseherolde. Es läuft gelber Seiber heraus.

Sie sind furchterregend, aber zahm, die Michios der Findari. Sie tragen Fracht, sie tragen Truppen, sie werfen Doppelwummer ab – Tonkrüge voll mit einer Flüssigkeit, die bei Erschütterung explodiert. Und wie sie explodiert! Wie viele Fjengs sie damit schon aus der Luft alle gemacht haben, ohne Gefahr für ihre Jungs.

Rache für ihre Jungs.

Rache ist angesagt in diesen Tagen.

Die Michios sind unverzichtbar für die Kriegsanstrengungen der Allianz in Karra-Feng.

Unverzichtbar. Das Wort echot scheinbar endlos in seinem Kopf, während er eine schier endlose Zahl an Michios aus ihrem Stock abheben sieht, beladen mit Kobolden, Gerät und Kampfmitteln. Sie verlassen ihre Waben mit so schnell flatternden Flügeln, dass sie vor dem geistigen Auge verschwimmen. Fliegen in perfekter Formation.

Sie stoßen ihn ab und faszinieren ihn gleichermaßen.

Ihre Flügel knistern wie Pergament, das zusammengeknüllt wird. Wenn sie an ihm vorbeizischen, erzeugen sie einen mächtigen Windstoß, der ihn von der Plattform zu fegen droht. Aus ihren Rüsseln dringt ein kehliges Blubbern.

Er muss dringend pinkeln.

Licht. Schwärze. Dann ganz lange Licht. Wacht er endlich auf? Da sind Schmerzen. Überall Schmerzen. Sein Körper besteht daraus. Wo Knochen waren, ist gleißender Schmerz, wo sein Fleisch war, ist dumpfes Pochen, das ihn zernagt. Wo sein Blut war, ist Feuer, das ihn von innen verbrennt.

Wird er sich in einem Lazarett wiederfinden oder auf dem Totenbett? Wenn er die Augen öffnet, was wird er sehen? Das Antlitz jenes Gottes, in dessen Reich er am besten passt? Die besorgte Miene irgendeines Feldschers? Die blanke Klinge eines Fjengs, der triumphierend grinst?

Wo ist er?

Wann ist er?

Wer ist er?

Licht. Schwärze. Licht. Dann Schwärze.

Er verlässt diese Welt.